Nachfolgestudie «Financial Literacy»

Vorsorgereform
Eine neue Studie zeigt, dass ein Grossteil der Schweizer Arbeitnehmenden nicht glaubt, im Alter genügend Geld aus der AHV und der 2. Säule zu erhalten. Sind die Versicherten demgegenüber bereit, in der Vorsorge mehr Selbstverantwortung zu übernehmen? Sind sie offen für neue innovative Vorsorgelösungen? Im Gespräch gibt Studienleiterin Prof. Dr. Yvonne Seiler Zimmermann aufschlussreiche Antworten.
5. Dezember 2022
Geschrieben von
Fabio Brunner
Marketingverantwortlicher

Wie gross ist Ihr persönliches Vertrauen in die AHV und in die berufliche Vorsorge?
Yvonne Seiler Zimmermann: Nicht so gross. Oder mit anderen Worten: Ich sorge auch privat vor. Ich
halte das bisherige Versprechen für utopisch, dass AHV und BVG den Versicherten nach der Pensionierung 60 Prozent des letzten Lohns garantieren.

Welche Grundhaltung haben die Versicherten zur Altersvorsorge?
YSZ: Grundsätzlich darf man festhalten, dass das Thema «Altersvorsorge» interessiert. Das Interesse
der Männer ist höher als dasjenige der Frauen; das Interesse der Alten höher als das der Jungen.
Spannend ist, dass das Interesse der Jungen gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist. Rund drei von fünf
Befragten glauben nicht, dass sie genügend Geld aus der AHV und der 2. Säule erhalten werden, um im Alter den gewohnten Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig zeigt die Studie, dass das Vorsorgewissen insgesamt aber eher bescheiden ausfällt. Insbesondere fehlt das Wissen über die eigene persönliche Vorsorge.

Können Sie das ausführen?
YSZ: Das zeigt sich zum Beispiel bei der freiwilligen Altersvorsorge. Die Frage, wer überhaupt in die Säule 3a einzahlen darf, wurde schlecht beantwortet. Nur gerade 35 Prozent der Befragten wissen, dass nicht alle Personen in der Schweiz für die Säule 3a einzahlungsberechtigt sind. Das fehlende Wissen ist aber nicht das Hauptproblem.

Sondern?
YSZ: Das Hauptproblem ist die Unkenntnis der eigenen Wissenslücken. Wenn man etwas nicht weiss, informiert man sich über das Internet oder man lässt sich beraten. Dieses Bewusstsein über das eigene Unwissen fehlt allerdings vielen Personen. Das führt in der logischen Konsequenz dazu, dass viele Versicherte keine optimalen Vorsorgeentscheidungen treffen.

Sehen Sie Wege und Möglichkeiten, das Vorsorgewissen der Versicherten zu verbessern?
YSZ: Die Medien spielen eine grosse Rolle. Sie tragen zur Sensibilisierung für das Thema bei. Was wir in
der Studie auch sehen: Wenn Versicherte Fragen haben, dann wenden sie sich zuerst an ihre eigene
Vorsorgeeinrichtung. Das bedeutet, dass diese auch eine hohe Verantwortung tragen. Je einfacher und
verständlicher Vorsorgeeinrichtungen kommunizieren, desto besser verstehen es die Versicherten. Es
darf ausserdem davon ausgegangen werden, dass eine gute Kommunikation auch das Vertrauen in
die berufliche Vorsorge erhöht. Schliesslich würde ich es begrüssen, wenn wir die Vermittlung des
Vorsorgewissens noch aktiver ins Schulsystem integrieren könnten.

Unterscheiden sich die Ergebnisse der aktuellen Studie von jenen des Vorjahres?
YSZ: Wir fragen immer nach der allgemeinen Einschätzung der Wirtschaftslage, weil diese nicht nur die Haltung zum Vorsorgesystem, sondern insbesondere auch Anlageentscheidungen beeinflusst. Obwohl die Wirtschaftslage pessimistischer eingeschätzt wird als im Vorjahr, sind die Versicherten interessanterweise risikofreudiger. Der Anteil der risikofreudigen Jungen ist höher als derjenige der Alten. Das ist aus finanzökonomischer Perspektive sinnvoll. Je länger der Anlagehorizont ist, desto höhere Risiken kann man eingehen.

In Ihrer Studie thematisieren Sie den «Megatrend der Individualisierung». Was ist darunter zu verstehen?
YSZ: Die Zukunftsforschung geht davon aus, dass Menschen künftig ihr Leben noch individueller und noch selbstbestimmter gestalten werden. Die Individualisierung durchdringt alle Lebensbereiche. Karrierestreben und Geldverdienen rücken dabei eher in den Hintergrund. Stattdessen wünschen sich Arbeitnehmende, ihre Arbeit vermehrt in Einklang mit ihrem Privatleben zu bringen. Künftig werden Arbeit und Freizeit vermehrt verschmelzen. Arbeitnehmende werden sich während des erwerbsfähigen Alters auch mehr Auszeiten nehmen, sei es für Weiterbildungen, Sabbaticals, Elternzeit, für die Pflege von Angehörigen oder für die Frühpensionierung…

… und in den Auszeiten fallen die Sparbeiträge für die Vorsorge aus, was spätere Rentenkürzung zur Folge hat.
YSZ: Genau. Je nachdem, wie die Auszeit organisiert ist, werden gar keine oder deutlich tiefere Beiträge
einbezahlt. Dadurch fällt das Vorsorgekapital tiefer aus als ohne Auszeit, was zu Rentenkürzungen führt.

Könnte der Gesetzgeber den Versicherten die Möglichkeit geben, Auszeiten vom Berufsleben vorzufinanzieren?
YSZ: Ja, in Deutschland gibt es bereits eine solche Lösung. Diese wird als Zeitwertkonto bezeichnet. Mit diesem Konto können Versicherte sowohl Zeit wie auch Geld ansparen, um sich eine Auszeit vorzufinanzieren. Durch die Vorfinanzierung kommt es während der Auszeit zu keiner Reduktion der Sparbeiträge. Rentenkürzungen können so vermieden werden.

Sind die Versicherten offen für so innovative Lösungen?
YSZ: Ja, absolut. Unsere Studie zeigt, dass acht von zehn Befragten ein solches Zeitwertkonto nutzen
würden. Typisch schweizerisch möchten viele aber noch mehr Informationen zum Thema. Die Versicherten zeigen mit dieser Antwort, dass sie bereit wären, ihre Auszeiten aktiv und selbstverantwortlich vorzufinanzieren.

Wofür würden die Versicherten das Konto einsetzen?
YSZ: Die Umfrage zeigt, dass die Befragten das Konto am häufigsten für die Frühpensionierung und für
Sabbaticals einsetzen würden. Am dritthäufigsten geben die Befragten die Möglichkeit an, überhaupt
über ein solches Konto zu verfügen, ohne vorgängig bereits den genauen Verwendungszweck zu kennen Geschätzt an einem solchen Konto wird insbesondere die Flexibilität, dass selbst entschieden werden kann, wofür und wann die Guthaben eingesetzt werden.

Ist die Einführung eines Zeitwertkontos politisch machbar?
YSZ: Der Aufwand wäre klein und der Mehrwert gross. Auch für Arbeitgebende wäre ein Zeitwertkonto attraktiv. Sie könnten damit unkompliziert auf die heutigen und künftigen Bedürfnisse der
Arbeitnehmenden eingehen und sich dadurch als attraktiver Arbeitgebenden positionieren. Es wäre
gut möglich, auch in der Schweiz eine gesetzliche Grundlage für das Zeitwertkonto zu schaffen. Der
Systemeingriff wäre meines Erachtens überschaubar

PensExpert hat die Studie als Wirtschaftspartner mitermöglicht. Welchen Nutzen hat das Unternehmen aus den Erkenntnissen?
YSZ: Die Studie gibt zunächst eine Antwort darauf, wer mit welchem soziodemografischen Profil welches Vorsorgewissen hat und welche Themen bekannter sind als andere. Neben diesem direkten Nutzen leistet PensExpert mit der Studie einen Beitrag zur Sensibilisierung für das Thema und positioniert sich im Markt. Dadurch kann die Kommunikation noch kundenspezifischer ausgestaltet werden. Sowieso sollte jede Vorsorgeeinrichtung an informierten Versicherten interessiert sein. Informierte Versicherte benötigen weniger Beratung und verringern insgesamt den Verwaltungsaufwand

Yvonne Seiler Zimmermann, herzlichen Dank für das Gespräch. Dieses Interview wurde geführt von Adrian Bühler (media-work gmbh)

Yvonne Seiler Zimmermann

Institut für Finanzdienstleistungen Zug IFZ
Hochschule Luzern – Wirtschaft

Yvonne Seiler Zimmermann ist seit 2008 Dozentin und Projektleiterin am Institut für Finanzdienstleistungen Zug IFZ der Hochschule Luzern. Sie ist dort u.a. Programmleiterin des MAS/DAS Pensionskassen Management. Yvonne Seiler Zimmermann hat an der Universität Bern Wirtschaftswissenschaften studiert und an der Universität Basel promovier. An der University of Chicago erlangte sie zudem das Certificate in Econometrics. Zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten gehören die Finanzmarkttheorie und die kapitalgedeckte Vorsorge.

Beliebteste Tätigkeiten, welche die Bevölkerung mit einem Zeitwertkonto finanzieren wollen. Anzahl Beobachtungen: 1'239
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Fabio Brunner
Marketingverantwortlicher